Die Gaste
ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE
ISSN 2194-2668
DÝL VE EÐÝTÝMÝ DESTEKLEMEK ÝÇÝN ÝNÝSÝYATÝF
(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)


  • SONRAKÝ YAZI
  • ÖNCEKÝ YAZI
    Ausgabe 10 / Januar-Februar 2010



    Die Gaste, Ausgabe 10 / Januar-Februar 2010

     
     

    Die Gaste

    ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE

    ISSN 2194-2668

    DÝL VE EÐÝTÝMÝ DESTEKLEMEK ÝÇÝN
    ÝNÝSÝYATÝF

    Yayýn Sorumlusu (ViSdP):
    Engin Kunter


    diegaste@yahoo.com



    Kulturdolmetscher
    (Interkulturelle Kommunikation in Bildungs- , Sozial- und Gesundheitswesen)
    Kültür Çevirmeni


    Prof. Dr. Ali UÇAR

    Die Gaste 10. Sayý / Ali Uçar




    DAS PROBLEM
    In Erziehungs- und Bildungseinrichtungen wie Kindertagesstätten, Schulen, als Erzieherin, Lehrer, Sonderpädagoge, Schulpsychologe, als Therapeut, Schulleiter, Schulhausmeister oder als weiteres (anderes) Schulpersonal hat man öfter mit Kindern, Jugendlichen, Heranwachsenden oder Eltern mit Migrationshintergrund zu tun.
    Die Zusammenarbeit mit Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund kommt nicht nur in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen vor, sondern ist auch im Bereich des Sozialwesens als Sozialpädagoge, Sozialarbeiter, Berater, Familienhelfer, Einzelfallhelfer etc. unausweichlich! Ähnliches gilt für praktizierende Ärzte, Schulärzte, Amtsärzte etc. im Bereich des Gesundheitswesens.
    Im Zusammenhang mit den oben beschriebenen Bereichen der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Eltern von unterschiedlichen Kulturkreisen (als Deutsche) entstehen in der Praxis (verschiedene) sprachliche und kulturelle Verständigungsschwierigkeiten, die man als Kommunikationsschwierigkeiten bezeichnen kann.
    Missverständnisse, unklare Diagnosen, Fehlinterpretationen unterschiedlicher Normen, Werte oder Verhaltensweisen sind meist die Folgen der Kommunikationsschwierigkeiten.
    Diese und ähnliche Schwierigkeiten der Kommunikation mit Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund haben enorme negative Wirkungen auf die Effektivität der Zusammenarbeit. Die bisherige Praxis im Schulbereich, im Bereich des Sozial- und Gesundheitswesens zeigt uns, dass die entstehenden Schwierigkeiten  überwunden werden müssen. Aber wie?
    „Wir brauchen dafür s. g. Kulturdolmetscher!“
    In den folgenden Ausführungen möchte ich das Konzept „Kulturdolmetscher“ begründen. Hierbei möchte ich mich auf den Bereich der Schule beschränken und Migrantenfamilien aus der Türkei als Beispiel anführen. Aus datenschutzrechtlichen Gründen wurden die Namen, die in den Praxisfällen vorkommen, geändert.

    „Wir brauchen Kulturdolmetscher“

    Was ist ein Kulturdolmetscher?
    Ein Kulturdolmetscher ist ein Dolmetscher als Vermittler zwischen verschiedenen kulturellen Systemen. Dolmetschen in diesem Sinne ist mehr als eine bloße Übersetzung der Sprache in eine andere Sprache. Es ist eine Übersetzung der kulturellen Normen, Werte und Verhaltensweisen der Menschen einer Kultur, um sie für Menschen anderer Kulturen verständliche zu machen. Diese Verständigungstätigkeit oder Vermittlertätigkeit setzt voraus, dass der Dolmetscher nicht nur die beiden Sprachen beherrscht, sondern beide kulturelle Systeme gut kennt.

    Warum die Kulturdolmetscher erforderlich sind?
    Fall 1:
    Kinder, Geschwisterkinder oder Nachbarn als Dolmetscher
    Für Hasan H. fand im November 2003 ein Förderausschuss (FÖA) statt. Die Eltern brachten ihre ältere Tochter für die Übersetzung mit, die die 9. Klasse einer Oberschule besuchte. Der Sonderpädagoge legte sein Gutachten vor und begann die Ergebnisse seines Gutachtens den Teilnehmern des FÖA, vor allem den Eltern, klar zu machen. Während die Tochter die Ausführungen des Lehrers übersetzte, wurden die Eltern unruhig. Die Vorsitzende des FÖA fragte die Eltern, ob sie alles verstanden haben. Die Eltern nickten mit dem Kopf, als ob sie es verstanden haben. Die gut deutsch sprechende Tochter übersetzte vieles nicht richtig, weil sie die fachlichen Begriffe, die in dem Gutachten vorkamen und deren entsprechende Bedeutung im Türkischen nicht kannte. Der Sonderschullehrer wiederholte seine Befunde ganz langsam und klar.
    „Herr Harman, Ihr Sohn hat einen unterdurchschnittlichen IQ, nach CFT 20, das ist ein Intelligenztest, beträgt er 76, normaler Durchschnitt ist 100. Ihr Kind hat Lernschwierigkeiten, es hat also einen Förderbedarf im Bereich des Lernens. Es ist ein Förderkind, es braucht Hilfe  und es bekommt eventuell einen Förderstatus. Es wird durch einen Fachlehrer / Förderlehrer nach einem Förderplan der Sonderschule für Lernbehinderte unterrichtet ... .“ Nach der Sitzung des FÖA kam der Vater zu mir und sagte: “Ich habe nichts verstanden, obwohl ich einigermaßen Deutsch verstehe. Können Sie mir noch mal den Kern der Sache erklären?“

    In der Praxis werden wie in o. g. Fall öfter Kinder, Geschwisterkinder oder Nachbarn von Betroffenen für die Übersetzungen eingesetzt. Eine solche Praxis ist meines Erachtens mit vielen Gefahren verbunden:

    • Das betroffene Kind wird stigmatisiert und es ist nicht ausgeschlossen, dass zwischen Geschwisterkindern oder Fremden Konflikte entstehen oder sich bestehende Konflikte verschärfen.
    • „Angelegenheiten“ des betroffenen Kindes, die der Schweigepflicht unterliegen, unter den Kindern verbreitet werden.
    • Zwischen den Geschwistern werden Hierarchien geschaffen und gefestigt.

    Dieser Fall zeigt, wie schwierig und kompliziert es ist, den Begriff „Fördern“ ins Türkische zu übersetzen, bzw. den Eltern verständlicher zu machen. Im FÖA Gespräch war nicht nur der Begriff „Fördern“ sondern viele ähnliche Begriffe wie z. B. Förderausschuss, Förderbedarf, Förderkind, Förderlehrer, Förderplan, Fördergutachten, Fördermittel, Fördergruppe, Förderzentrum, Förderdiagnose, Förderunterricht etc. den Eltern entweder völlig oder teilweise unbekannt.

    In den Beratungsgesprächen mit türkischen Eltern konnte ich häufig feststellen, dass die Eltern viele Begriffe, Normen, Werte, Regeln, Verhaltensweisen etc, überhaupt nicht oder unzureichend verstehen, die im Zusammenhang mit Erziehung, Schule, Institutionen in Frage kommen und die für die Zusammenarbeit mit Familien eine entscheidende Rolle spielen.

    Fall 2:

    (Fehl-)diagnose – (Fehl-)behandlung:
    Die Klassenlehrerin, Frau Möller, stellte im Februar 2003 ihren Schüler, A. Nasir, aus einem türkisch sprechenden Elternhaus dem Schulpsychologischen Dienst vor. Die Begründung: er sei sehr passiv, zurückhaltend und ohne Aufforderung beteiligte er sich am Unterrichtsgeschehen kaum. „Wenn ich mit ihm rede, schaut er mir kaum in die Augen. Seine Blicke gehen meistens nach unten. Er verhält sich so, als ob er von seinen Eltern geprügelt wird. Er ist unsicher, ängstlich usw. Er ist lern- und verhaltensauffällig.“

    Nach einer eingehenden schulpsychologischen Untersuchung konnte ich Folgendes feststellen:
    A. Nasir verhält sich eigentlich normgerecht. Er wuchs in einer Familie auf, die mit religiös-traditionellen Erziehungswerten behaftet ist. Er wurde auf die geschlechtsbezogene männliche Rolle vorbereitet. In einer religiös bäuerlich geprägten traditionellen Familie bedeutet das Verhalten „nicht in die Augen von Erwachsenen - insbesondere in die Augen von Frauen – zu schauen“, eine Dimension von RESPEKT. Der Erziehungswert „Respekt“ bedeutet im o. g. Kontext: Man muss gegenüber Älteren Respekt haben, sie achten, Ihnen nicht in die Augen schauen, sich unterordnen, nicht widersprechen und den Anweisungen Älterer folgen.
    Die Lehrerin, Frau Möller, ist als Frau, als Lehrerin, als Ältere eine Respektsperson. Daher verhält sich A. Naser zurückhaltend, passiv und wartet auf Anweisungen der Lehrerin, um sich aktiv am Unterricht zu beteiligen.
    Fehleinschätzungen und –beurteilungen oder falsche Interpretationen von Verhaltensauffälligkeiten können daher zu Fehldiagnosen und folglich zu falscher Behandlung führen.

    Fall 3:
    Die Schülerin, N. Berker, türkischer Herkunft fehlte unentschuldigt einige Tage in der Schule. Daraufhin rief die Lehrerin bei ihr zu Hause an, um zu fragen, warum Nesrin von der Schule fern blieb. Der Vater teilte der Lehrerin telefonisch mit „... meine Familie ist krank. Nesrin kümmert sich um ihre kleine Schwester. Deshalb kann sie die Schule nicht besuchen“. Die Lehrerin sagte dem Vater, dass die Tochter für die fehlenden Tage ein ärztliches Attest vorlegen müsse. Am nächsten Tag brachte Nesrin das ärztliche Attest mit in die Schule und legte es der Lehrerin vor. Auf dem Attest stand aber der Name der Mutter von Nesrin; also ein Attest für die Mutter. Die Lehrerin verlangte aber das Attest für Nesrin. Daraufhin sagte Nesrin, dass sie nicht krank war, sondern ihre Mutter krank war.
    Hier entstand zwischen der Lehrerin und Nesrin und dem Vater von Nesrin ein Missverständnis. Die Lehrerin verstand es so: „Wenn die Familie krank ist, sind alle Personen der Familie, zu denen auch Nesrin gehört, krank (wahrscheinlich eine ansteckende Grippe).“. Aber in der Tat war Nesrin gar nicht krank, sondern nur ihre Mutter war krank. (Hier liegt in der Kommunikation zwischen Lehrerin und der Familie ein eindeutiges Missverständnis vor).
    Die Hauptursache des Missverständnisses liegt in der Interpretation der Aussage: „Meine Familie ist krank.“.

    In der traditionellen türkischen Kultur hat der Begriff „Aile“ (Familie) verschiedene Bedeutungen:
    Aile (Familie)

    1. Cekirdek Aile:  Kernfamilie, Vater, Mutter, Kind
    2. Genis Aile: Großfamilie: Vater, Mutter, Kinder, verheiratete Söhne, Töchter, ihre Kinder
    3. Aile: Familie, hierunter werden Kinder und die Frau des Mannes verstanden z. B. Ailemi izine götürmiyecegim = meine Familie nehme ich nicht in den Urlaub mit.
    4. Aile: Familie = meine Frau, hierunter wird nur die Frau verstanden. Ailem hasta = meine Familie ist krank = meine Frau ist krank
    5. Aile: Gemeinsam wohnen in einem Haus. Hier werden alle Menschen, die gemeinsam wohnen als Familie betrachtet.
    6. Aile: Familie als Eltern. Z. B.: Meine Familie erlaubt nicht, dass ich mit anderen Kindern spiele.
    7. Aile: Familie als Nachbarn, der Berufsgenossen, Freunde etc. „Wir sind hier wie eine Familie“
    8. Aile: Familie als eine Gruppe der Menschen, die den gleichen Namen tragen oder blutsverwandt sind.

    Fall 4:
    Fehlinterpretation
    Zeynep ist 13 Jahre alt, Schülerin der 7. Klasse einer Realschule. Beim Aufräumen zu Hause entdeckte der Vater ein Foto von Zeynep, auf dem seine Tochter einen Jungen aus der Schule umarmt. Er nahm das Bild mit und ging in die Schule. Dort traf er die Klassenlehrerin auf dem Schulhof in der Pause und zeigte ihr wütend das Bild und suchte auf eigene Faust den Jungen auf dem Bild. Die Lehrerin bat den Vater den Schulhof zu verlassen und meinte außerdem sei es nicht schlimm, wenn seine Tochter einen Jungen aus ihrer Klasse umarmte. Da der Vater nicht der Aufforderung der Lehrerin folgte, wurde der Schulleiter eingeschaltet. Im Gespräch mit dem Schulleiter hat der Vater ganz laut mit seinem „Gastarbeiterdeutsch“ seine Tochter, den Jungen und die Lehrerin beschimpft: Sie würden nicht auf die Kinder aufpassen, die Lehrer würden alles erlauben. Sie seien nicht autoritär. Die Schulleitung versuchte den Vater zu beruhigen und zu überzeugen, dass der Fall nicht schlimm sei. Daraufhin sagte der Vater: „Wenn die Lehrer die Kinder nicht artig erziehen, muss ich meine Tochter schützen, meine Ehre verteidigen!“. Beim Verlassen des Schulhofes warf der Vater einen Blick auf die Kinder und zeigte mit seinem Finger: „Ich bringe euch alle um.“. Der Schulleiter verwies den Vater auf die gesetzlichen Bestimmungen.
    Der Schulleiter nahm diese Ereignisse ernst und erstattete über das zuständige Schulamt eine Anzeige wegen „Morddrohung“.
    Nach einigen Tagen bekam der Vater eine Vorladung zur Polizei. Er sollte zu der Anzeige bzw. dem Vorwurf Stellung nehmen. Nach Aussagen des Vaters hätte er den Vorwurf „Morddrohung“ abgelehnt. Er hätte so etwas nicht gemacht. Dieser Konflikt ist eskaliert. Die Schule verlangte Sicherheitsschutz. Die Polizei bewachte die Schule. Die Familie suchte einen Anwalt auf. Das Lehrerkollegium hatte Angst. Die Tochter blieb von der Schule fern.
    Über den Schulpsychologischen Dienst wurde ich für die Beratung der Schule eingeschaltet. Nach einigen Gesprächen mit Kindern, Lehrerinnen und Schulleitung kam ich zu der Vermutung, dass zwischen der Schule und den Eltern eine Kommunikationsschwierigkeit besteht und sie einander nicht verstehen. Aus den Missverständnissen ist ein großer Konflikt entstanden. Ich sah die Notwendigkeit, dass Schule und Eltern zusammenkommen und an einem Tisch miteinander reden müssen, um Unklarheiten, Missverständnisse, falsche Deutungen zu beseitigen um dann zu einer Lösung zu kommen.
    Die Eltern, der Schulleiter und ich trafen uns zum vereinbarten Termin in der Schule.
    Die Schulleitung behauptete, dass der Vater auf dem Schulhof Morddrohungen gegenüber Lehrer/innen und Schüler/innen ausgesprochen hat.

    Der Vater sagte, seine Drohung: „Ich töte euch.“ war nicht ernst gemeint. „Bei uns in der Erziehung der Kinder sagt jeder Vater und jede Mutter zu ihren Kindern: „Bleibe artig, wenn du nicht artig bleibst, schneide ich deine Ohren ab oder ich töte dich oder drehe dir den Hals um.“. Mit solchen Aussagen macht man Angst. Aber in der Tat ist es eine harmlose Aussage. „Bis heute hat kein Vater oder keine Mutter mit solchen Aussagen ihre Kinder getötet oder den Kindern die Ohren abgeschnitten. Das ist nur für die Lenkung der Kinder, für das richtige Verhalten gedacht.“
    Zum Schluss kam ich zu der Feststellung, der Vater hat seine Drohung nicht ernst gemeint, die Schulleitung hat die Aussage des Vaters ernst genommen und Anzeige erstattet. Nachher waren die beiden Seiten davon überzeugt, dass zwischen beiden Konfliktparteien tatsächlich ein Missverständnis bzw. eine Fehlinterpretation entstanden war.
    Zum Schluss wurde vereinbart, dass der Vater seine Aussage und die Schulleitung ihre Anzeige zurücknehmen. Damit wurde der Konflikt beigelegt.

    Dieses Missverständnis bzw. diese Fehlinterpretation des Verhaltens des Vaters von Seiten der Schulleitung brachte viel Wirbel und Aufwand. Die Polizei, Eltern, Schule und Schulpsychologie mussten in den Konflikt viel Kraft und Zeit investieren, um das Missverständnis zu klären.

    Fall 5:
    Diagnose, Therapie und Unwissenheit der Eltern
    Im Falle von Yasemin, 9 Jahre alt, Schülerin der 3. Klasse wurde vom Schulpsychologischen Dienst eine Entwicklungsverzögerung diagnostiziert und deshalb eine psycho motorische Therapie empfohlen. In Absprache mit den Eltern begann ein deutscher Therapeut mit der Behandlung. Nach 3 Sitzungen haben die Eltern die Behandlung abgebrochen. Als ich nachgefragt habe, warum die Behandlung nicht fortgeführt wurde, antwortete die Mutter: „Eine solche Behandlung bringt für meine Tochter nichts. Der Psychologe spielt nur mit meinem Kind oder macht einige Bewegungen mit ihr. Aber mein Kind hat Bauchschmerzen, auch öfter Kopfschmerzen und kann nicht schreiben und lesen. Der Psychologe (Doktor) gibt ihr kein Medikament gegen die Schmerzen. Das Kind muss für die Schule das Lesen lernen und nicht spielen, das bringt nichts.“.
    Hier wird deutlich, dass den Eltern die Therapie mit Kindern unbekannt ist. Sie trennen nicht zwischen Körper und Seele.. Deshalb greifen die Eltern auch bei seelischen Erkrankungen sofort zu Medikamenten.

    Fall 6:
    Fehlinterpretation des Verhaltens
    Für Bayram, 4. Klasse, wurde u. a. wegen seines aggressiven Verhaltens ein Förderausschuss berufen:
    Die Sonderschullehrerin legte ihr Gutachten dem Förderausschuss (FÖA) vor. Sie berichtete, dass sie in der Hospitationsstunde Folgendes feststellen konnte: Bayram sei unruhig, störe die anderen Kinder. Vor allem sei er aggressiv, er ginge während der Stunde auf die anderen Kinder los und kneife oft in die Backen der Anderen. Wenn die Kinder sich wehrten oder Schmerz verspürten, dann habe Bayram sie lachend gestreichelt. Dieses Verhalten zeige er öfter, was auch die Lehrerinnen bestätigten.
    Hier ist die Frage, wie können wir dieses Verhalten von Bayram „Kneifen, Lachen und dann Streicheln“ interpretieren?
    Nach Recherchen in der Familie konnte ich feststellen, dass das Kneifen in die Wangen von Kindern häufig in der Familie vorkommt.
    Erwachsene zeigen mit Kneifen ein gewisses Liebeszeichen. Wenn dieses Kneifen ein bisschen weh tut, dann streichelt man oder küsst man das Kind. Bei Bayram trat dieses - von Erwachsenen gelernte - Verhalten in Erscheinung. Eigentlich wollte Bayram den anderen Kindern gegenüber  „Liebe“ zeigen und damit Kontakt aufnehmen. Nun ist die Frage: Ist dies eine Verhaltensstörung oder ein normales Verhalten?
    Nach der Vorstellung der Eltern ist das Verhalten von Bayram selbstverständlich und normal. Aber nach den Beobachtungen der deutschen Sonderpädagogin ist das Verhalten von Bayram nicht normal.

    Dieser Fall deutet auch darauf hin, welche Fehlinterpretationen, Missverständnisse hinsichtlich der Diagnose, Beurteilung und der Behandlung entstehen können.

    Die oben beschriebenen Fälle sind nur ein kleiner Teil der Praxis. Diese Verhaltensweisen gelten für viele Kinder, die einen anderssprachigen, kulturellen, religiösen Hintergrund haben.
    Wenn in der Kommunikation mit Kindern nichtdeutscher Herkunft, Jugendlichen oder Familien Sprach- oder Verständigungsschwierigkeiten auftreten, ist die erste Reaktion des deutschen Fachpersonals: „Ja, sie müssen Deutsch lernen.“. Andere Alternativen oder Möglichkeiten zur besseren Verständigung werden kaum in Betracht gezogen.

    Dolmetscher
    Eine Dienstleistung mit Hilfe eines Dolmetschers für Migranten bleibt in ihrer Effektivität sehr eingeschränkt. Die Einschaltung eines Dolmetschers ist in vielen Bereichen mit gewissen Risiken verbunden. Wenn es z. B. um pädagogische, psychologische, soziale, familiäre, psychosomatische oder medizinische Fragestellungen, Informationen und Erscheinungsbilder geht.

    In der Praxis könnte es zu vielen Verfälschungen durch den Dolmetscher kommen:

    • Der Dolmetscher hat immer einen eigenen Anteil bei der Übersetzung. Durch die Beherrschung der beiden Sprachen hat er eine überlegenere Position als die der Menschen, die die Sprache nicht beherrschen.
    • Mit der Einschaltung eines Dolmetschers könnte es vorkommen, dass z. B. ein Therapeut seine Führungsrolle im therapeutischen Prozess verliert.
    • Bei Übersetzung von Konfliktsituationen ist es nicht ausgeschlossen, dass der Dolmetscher sich in den Mittelpunkt stellt.
    • Mit Einschaltung eines Dolmetschers entsteht statt einer Zweierbeziehung eine Dreierbeziehung. In der Regel entsteht dadurch eine Dreipersonen-Konstellation.
    • Eine weitere Gefahr bei Einschaltung eines Dolmetschers ist, dass er selektiert übersetzt und die Gefahr besteht, dass Aussagen durch die eigenen Wertvorstellungen des Dolmetschers verfälscht werden
    • Viele Informationen können verloren gehen


    ZWEI KULTURELLE SYSTEME, ZWEI DENKSYSTEME, VERSTÄNDIGUNGSSCHWIERIGKEITEN; WAHRNEHMUNGSPROBLEME

    Viele Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Diese Menschen leben im Einflussbereich von zumindest zwei Kultursystemen, die die Arbeits- und Lebensweise, das Verhalten, die Wahrnehmung und die Einstellung zur Erziehung, zu Krankheit, Körper, Psychosomatik sowie auch die Denkweise prägen, wie dies in Abbildung 1 schematisch dargestellt ist.

    Es ist deshalb erforderlich, dass die kulturspezifische Determiniertheit bei anamnestischen Erhebungen; Diagnostik; Therapie oder bei weiteren Behandlungen berücksichtigt werden muss.
    Es gibt eine ganze Menge Tabubereiche von Migrantenfamilien, zu denen man ohne spezifische Kenntnisse keinen Zugang finden kann, worüber sich die Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter, Schulpsychologen, Ärzte etc. beschweren.

    Die Kommunikation zwischen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen und den Migrantenfamilien ist nicht nur ein bloßes Sprachproblem, es ist mehr; es ist ein kulturelles Verständigungsproblem.

    Hier geht es darum, Begriffe, Verhaltensweisen, Werte und Normen, die aus einem anderen Kulturkreis stammen, in andere kulturelle Systeme zu übersetzen, d. h. entsprechende Begriffe, Wertesysteme von anderen Systemen oder zumindest ähnliche Begriffe zu suchen und auf dieser Ebene eine Verständigung zu erreichen. Dies zu schaffen setzt voraus, dass derjenige, der zwischen beiden kulturellen Systemen eine Verständigung erreichen will, dafür eine Kompetenz entwickelt haben muss, d. h. er muss die beiden Kulturen gut kennen und methodische, persönliche und fachliche Kompetenz besitzen.

    In der Kommunikation mit den Menschen aus anderen Kulturkreisen entstehen häufig Missverständnisse, wie die oben beschriebenen Fälle in der Praxis zeigen. In der nonverbalen Kommunikation werden die Missverständnisse oder Fehlinterpretationen deutlicher. Unterschiedliche körperliche Bewegungen, Blickkontakte, Nähe, Distanz, räumliche und auch zeitliche Wahrnehmungen können unterschiedliche kulturelle Bedeutung haben, aber in der Kommunikation eine große Rolle spielen. So kann z. B. ein intensiver Blick von Menschen eine Aggression bedeuten oder auch als Respekt interpretiert werden.
    Vorn – hinten, oder oben – unten können andere Bedeutungen haben als im Europäischen.
    Z. B. aggressives Verhalten von einem nichtdeutschen Jungen kann von den Eltern anders wahrgenommen werden als von einer deutschen Lehrerin. In der Erziehung von Jungen könnte ein aggressives Erscheinungsbild des Jungen positiv bewertet werden, während dies von einer deutschen Lehrerin als negativ angesehen wird. Vielleicht werden die Eltern das aggressive Verhalten ihres Sohnes gar nicht als Problem sehen. Die Jungen sollen Durchsetzungsvermögen besitzen und Stärke zeigen. Dies gehört zur patriarchalischen Männlichkeitserziehung.
    Die Einstellung zu Krankheiten, vor allem zu psychischen Krankheiten, von vielen türkischen Eltern ist interessant. Es gibt viele Beispiele, die die Kulturgebundenheit des Erscheinungsbildes der unterschiedlichen Krankheiten deutlich zum Ausdruck bringt. Viele Frauen aus der Türkei drücken ihre Krankheit häufig durch ihren Körper aus. Sie spüren Schmerzen. Eine Deutsche würde im Falle einer Depression sagen: „Ich bin depressiv.“, eine Türkin wird sagen: „Ich habe Schmerzen.“. Bei der Depression werden die körperlichen Schmerzen in den Vordergrund gestellt. Warum ist das so?
    Als ich 8 Jahre alt war, war ich irgendwie krank. Meine Mutter sagte zu mir: „Mein Sohn, dir ist dein Nabel heruntergefallen (Göbegin düstü). Du sollst ruhig liegen, ausruhen und diesen schönen Bergtee trinken“. Im Bett guckte ich heimlich meinen Bauch und meinen Nabel an. Aber es war alles an seiner Stelle. Der Nabel war nicht weg. Aber sie meinte, dass ich aus dem Gleichgewicht geraten bin. Der Nabel ist in der Mitte des Körpers. Mit einer Erkrankung gerät der Körper aus dem Gleichgewicht. Seitdem verstehe ich viele türkische Eltern, wenn sie sagen, dass der Nabel des Kindes heruntergefallen ist.

    Magische Vorstellungen sind unter der türkischen Bevölkerung sehr verbreitet. Die Krankheit wird im traditionellen, volksmedizinischen Sinne als im Umfeld des Menschen entstandenes, selbstständiges Wesen bzw. magische Kraft verstanden, die von außen in den menschlichen Körper eindringen und ihn zumeist ganzheitlich befallen kann (Externalisierung). Hier wird keine Trennung von Psyche und Soma gemacht.

    Neben den magischen Kräften gibt es Menschen mit Vorstellungen vom bösen Blick (Nazar, Büyü) oder Menschen, die von Geistern (cin) überfallen werden.
    Hier reden sie im Grunde genommen von gestörten Beziehungen. Es gibt auch naturbedingte Vorstellungen wie Kälte, Wärme, Ernährung, Belastung, auch das Konzept verschobener, fallender, verrutschter Organe, die als Ursache der Krankheiten betrachtet werden.

    Die oben beschriebenen Beispiele zeigen, wie kulturgebunden die Erscheinungsbilder von Verhaltensweisen oder Krankheiten sind. In der Praxis kommt es häufig vor, dass die deutschen Psychologen, Psychiater, Pädagogen, Erzieher, Sozialarbeiter, Ärzte etc. sich hilflos fühlen, wenn sie mit ausländischem Klientel zu tun haben. Auf der anderen Seite fühlen sich die Eltern, Kinder, Jugendlichen von nichtdeutschen Kulturkreisen ebenfalls hilflos, weil sie sich von deutschen Fachleuten nicht verstanden fühlen. In der Praxis kenne ich viele Eltern, die wegen ihrer Kinder mit unklaren Diagnosen von Arzt zu Arzt, von Psychologen zu Psychologen oder von Beratungsstelle zu Beratungsstelle mit Plastiktüten voller Medikamente mit Attesten, Schreiben, Gutachten hin und her laufen.

    ZUSAMMENFASSUNG

    In Erziehungs- und Bildungseinrichtungen wie Kindergärten und Schulen brauchen wir Kulturdolmetscher.
    Das Gleiche gilt auch für das Gesundheits- und Sozialwesen. Das ist eine Herausforderung des Sozialstaates zur interkulturellen Öffnung der sozialen Dienste im weiteren Sinne. (Art 7 und 20 GG)
    Für Kitas und Schulen – insbesondere in Stadtbezirken, in denen viele Menschen mit Migrationshintergrund wohnen – sollte ein s. g. Kulturdolmetscher Dienst eingerichtet werden. Die Pädagogen oder Psychologen, die beide Sprachen können und beide Kulturen gut kennen, müssen beschäftigt werden. Dies kann man an Schulpsychologische Beratungszentren anbinden oder im Rahmen dessen kann er eingerichtet werden. Dieses Team muss aber mobil sein. Nach einer Vorbereitungsphase können sie sofort mit ihrer Aufgabe beginnen. Nach einer gewissen Zeit kann man erneut überprüfen und evaluieren, wie diese Vorstellungen verwirklicht werden können.