Die Gaste
ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE
ISSN 2194-2668
DÝL VE EÐÝTÝMÝ DESTEKLEMEK ÝÇÝN ÝNÝSÝYATÝF
(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)


  • SONRAKÝ YAZI
  • ÖNCEKÝ YAZI
    Ausgabe 28 / August-Oktober 2013



    Ausgabe 28 / August-Oktober
 2013

     
     

    Die Gaste

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    ISSN 2194-2668

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    Yayýn Sorumlusu (ViSdP):
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    Typisch deutsch.
    Wie die Deutschen ticken
    [Tipik Alman - Almanlarýn Tutum ve Davranýþlarý]


    Prof. Dr. Hans-Dieter GELFERT
    (Freie Universität, Berlin)

    In den Augen von Ausländern gelten Deutsche als nüchterne Ma¬cher, die nicht lange herumreden und eher zu einer gewissen Ruppigkeit bis hin zu schulmeisterlicher Rechthaberei neigen, dafür aber Dinge produzieren, auf die man sich verlassen kann. Die Deutschen selber halten sich für fleißig, ordnungsliebend, sauber, pünktlich und gründlich. Diese Eigenschaften, die als deutsche Tugenden gelten, setzen eine ernsthafte Grundhaltung voraus, die wenig Raum für Humor lässt. Deshalb halten Englän¬der den deutschen Humor für nichtexistent. Dem Bild des ernst¬haften, nüchternen Deutschen widerspricht allerdings die deutsche Unterhaltungskultur, deren Grundzug durch etwas ge¬prägt ist, was im westlichen Ausland oft mit dem deutschen Wort 'gemütlich' bezeichnet wird. Oktoberfeste, Bierzelte, Fa¬sching und Heimatromantik gelten als ebenso typisch deutsch wie die ernsten Tugenden. Welche dieser Eigenschaften sind nun wirklich typisch und wo kommen sie her?

    Jeder, der ein paar Monate im Ausland verbracht hat, weiß, dass andere Nationen andere Mentalitäten haben. Die landläu¬fige Vermutung ist, dass es sich um genetische Unterschiede handelt. Das kann aber nicht sein, sonst müssten so verwandte Völker wie die Deutschen und die Engländer die gleiche Menta¬lität haben. Tatsächlich unterscheiden sich die beiden Natio¬nen aber stärker als z. B. Deutsche und Polen. Unter einer na¬tionalen Mentalität versteht man die Gesamtheit der Verhal¬tensweisen und Wertpräferenzen, die in den Angehörigen eines Volkes mit auffälliger Häufigkeit über Generationen hinweg zu beobachten sind. Da die Ausbildung dieser Grundzüge bereits am Tage der Geburt beginnt, kann es sich nicht um das Ergebnis schulischer Bildung oder sonstiger bewusster Erziehungsmaßnah¬men handeln. Vielmehr ist es etwas, das man bereits mit der Muttermilch aufnimmt, wobei sich nicht einmal die Mütter be¬wusst sind, dass sie den Kindern eine andere Mentalität ver¬mitteln als die Mütter anderer Nationen.

    Lässt man alle Eigenschaften, die als typisch für ein Volk empfunden werden, Revue passieren, wird man in der Regel auf sehr wenige Grundhaltungen stoßen, die sich in einzelnen Ver¬haltensweisen und Wertungen ausdifferenzieren. So ist, um mit einem Blick auf andere Nationen zu beginnen, unschwer zu er¬kennen, dass für Engländer und Amerikaner das Verlangen nach individueller Freiheit allen anderen Wertforderungen vorausge¬ht und ihnen zugrunde liegt. Auch die Deutschen wünschen sich Freiheit und schätzen sie in hohem Maß, doch ihr höchster Wert ist Sicherheit. Die wiederum ist etwas, das auch andere Natio¬nen erstreben, doch für sie hat sie nicht die tiefe emotionale Bedeutung wie für die Deutschen. Das wird deutlich, wenn man ein anderes Wort dafür verwendet, nämlich 'Geborgenheit'. Das Wort 'Geborgenheit' lässt sich schwerer in andere Sprachen übersetzen als 'Sicherheit'. Für Deutsche bezeichnet es eine Hülle, die nicht nur Schutz gewährt, sondern zugleich Wärme und Fürsorge. Die Sehnsucht nach Geborgenheit ist etwas, das die deutsche Kultur seit dem Dreißigjährigen Krieg prägt und das in der Romantik zur vollen Entfaltung gelangte. Die Ursa¬che dafür liegt auf der Hand. Bis zur Reichsgründung von 1871 hatten die Deutschen keinen Staat, der ihnen Schutz gewähren konnte. Sie lebten in kleinen und kleinsten Staatsgebilden, die sich durch Eroberungen und Erbteilungen ständig veränder¬ten. Ein deutscher Historiker stellte fest, dass es 1789, im Jahr der Französischen Revolution, exakt 1789 selbständige po¬litische Einheiten auf deutschem Boden gab. Wen kann es da wundern, dass die Deutschen sich nach Geborgenheit in einer großen schützenden Einheit sehnten. Ebensowenig verwunderlich ist aber auch, dass sie zugleich immer Angst davor hatten, die Geborgenheit ihres Kleinstaates zugunsten einer größeren Ein¬heit aufzugeben.

    Noch immer schwanken die Deutschen zwischen diesen beiden Po¬len. In ihrer Heimat, d. h. in der Region ihrer Geburt und Kindheit, fühlen sie sich stärker geborgen als im großen Na¬tionalstaat, der ihnen andererseits größeren Schutz gewährt. Heimat hat für Deutsche eine tiefere emotionale Bedeutung als für die meisten ihrer europäischen Nachbarn. Das rührt vor al¬lem daher, dass die historisch gewachsenen Kleinstaaten nicht nur politische, sondern kulturelle Einheiten waren, was allein schon in den unterschiedlichen Dialekten zum Ausdruck kommt. Heimat bietet emotionale Geborgenheit, der Nationalstaat poli¬tische Sicherheit. Das Hin-undher-Gerissensein zwischen diesen beiden Sehnsüchten wiederholt sich jetzt zwischen Deutschland und Europa. Ein deutsches Sprichwort sagt: Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Doch als die Taube den Deutschen als Adler erschien, gaben sie den Spatz dafür her. Heute ist Deutschland kein Spatz und Europa kein mächtiger Ad¬ler. Da ist es verständlich, dass den Deutschen die Entschei¬dung schwer fällt.

    Wie tief die Sehnsucht nach Geborgenheit in der nationalen Seele der Deutschen sitzt, illustriert ein Zitat des Reichsar¬beitsführers Robert Ley aus der Zeit des Nationalsozialismus. Er stellte die rhetorische Frage "Weshalb liebt der deutsche Mensch Adolf Hitler so unsagbar?" und beantwortete sie so: "Weil er sich bei Adolf Hitler geborgen fühlt. Das ist es, das Gefühl des Geborgenseins, das ist es. GeborgenI" Heute werden sich die Deutschen keinem Diktator mehr unterwerfen, um sich geborgen zu fühlen; doch das, was sie für "Mutti" Merkel emp¬finden, entspringt dem gleichen Grundgefühl.

    Zu den stereotypen Vorurteilen über die Deutschen gehört ihre angebliche Humorlosigkeit. Wenn dieses Volk im Süden und Wes¬ten des Landes alljährlich vom Karnevalsfieber gepackt wird, das sich von der Erstinfektion am 11. 11. elf Uhr elf bis zum Aschermittwoch im Februar hinzieht, klingt der Vorwurf verwun¬derlich. Verständlich ist er nur aus der Sicht der westlichen Nachbarn. Humor ist eine Bereitschaft zur gewaltfreien Lösung sozialer Spannungen durch Lachen. Als Sozialstrategie ist er dort wichtig, wo Menschen auf engstem Raum zusammen leben und Spannungen unvermeidlich sind, d. h. in den Städten. Deshalb entstand im Spätmittelalter mit dem Aufblühen der europäischen Städte eine Lachkultur, die überall ähnliche Formen annahm. Damals hatten die Deutschen den gleichen Humor wie ihre west¬lichen Nachbarn. Till Eulenspiegel ist sein archetypischer Repräsentant. Der Stadtbürger lachte respektlos nach oben ge¬gen Adel und Klerus, nach unten gegen tumbe Bauern und zur Seite gegen die Konkurrenz. Diesen anarchisch-respektlosen Stadtbürgerhumor haben die Engländer noch heute. In Deutsch¬land ging er zusammen mit den Städten im Dreißigjährigen Krieg unter. Seine Wiederauferstehung erlebte er danach nicht als Stadtbürgerhumor, sondern als Staatsbürgerhumor. Stadtbürger lachen mit dem Störer gegen die Ordnung, sie wollen die Auto-ritäten vom Sockel holen. Der Staatsbürger lacht mit der Ordnung gegen den Störer und will ihn hinauslachen. Das deutsche Wort 'auslachen' beschreibt dies sehr anschaulich. Der deut¬sche Staatsbürgerhumor - der inzwischen auf dem Rückzug ist, da mit den westlichen Siegermächten der alte Stadtbürgerhumor zurückgekehrt ist - entstammt der gleichen Sehnsucht wie das Verlangen nach Geborgenheit. Auch heute noch sehnen sich die Deutschen nach einem spannungsfreien Innenraum, in dem sie ge¬mütlich lachen können und bis vor kurzem auch noch zu singen pflegten. Das Fernsehen bedient diese Sehnsucht zum einen mit spannungsfreien, gemütlichen Familiensendungen und zum anderen mit dem moralisierenden Kabarett, das die Störer der Ordnung anprangert und auslacht.

    Auch das, was Ausländer bei den Deutschen als unfreundlich empfinden, hat etwas mit der oben erwähnten Spannung zwischen Heimat und Fremde zu tun. Wer mit Deutschen im Alltag zu tun hat, wird in der Mehrzahl der Fälle die Erfahrung machen, dass sie ausgesprochen hilfsbereit sind. Doch der erste Kontakt ist gewöhnlich abweisend. In Amerika lächeln sich Fremde, die sich auf der Straße begegnen, grundsätzlich an und wechseln oft ein paar Worte. Engländer geben ein etwas dezenteres Signal der Freundlichkeit, oft verbunden mit einer Bemerkung über das Wetter. Deutsche hingegen gehen meist grußlos aneinander vor¬bei und zeigen nicht einmal ein Lächeln. Das lässt sie in den Augen von Ausländern als Muffel erscheinen. Ihr Verhalten rührt aber wohl eher daher, dass sie sich mit einem viel enge¬ren Kreis familiärer und freundschaftlicher Beziehungen iden¬tifizieren und alles, was außerhalb dieses Kreises liegt, als fremd empfinden.

    Der deutsche Heimatkult hat etwas Provinzielles, was sich dar¬aus erklärt, dass Deutschland bis 1871 keine richtige Haupt¬stadt hatte und deshalb keine urbane Kultur entwickeln konnte. Zur Urbanität gehören Höflichkeit, soziale Umgangsformen und vor allem eine ausgeprägte Konversationskultur. Gerade das Letztgenannte ist in Deutschland schwach entwickelt. Deshalb werden Deutsche im Gespräch mit Ausländern von diesen oft als Menschen empfunden, die ihre Meinung aufdrängen und wie mit der Dampfwalze durch ein Gespräch rollen. Franzosen und Eng¬länder empfinden das als Mangel an savoir vivre bzw. an good manners. Die Deutschen ihrerseits halten ihre Direktheit für einen Ausdruck von Ehrlichkeit. Der Mangel an dezenten Umgangsformen hat aber auch eine gute Seite, nämlich die, dass man bei Deutschen nicht so leicht ins Fettnäpfchen tritt. In diesem Punkt sind sie toleranter als Engländer und Franzosen, wenn auch nicht ganz so großzügig wie Amerikaner. Zu den unerfreulichsten Eigenheiten der Deutschen gehört zwei¬fellos ihr Verhaltem im Straßenverkehr. Hier erweist sich das Volk der "Dichter und Denker" oft als das der Rechthaber und Drängier. Auch das hat eine kulturelle Wurzel; denn es hat mit der deutschen Tüchtigkeitsethik zu tun, die im 19. Jahrhundert aufkam. Nach den napoleonischen Kriegen lag Deutschland ökono¬misch weit hinter England und Frankreich zurück und begann eine Aufholjagd, an deren Ende es den Konkurrenten auf der In¬sel industriell überholte. Dazu bedurfte es einer Ethik, die Anstrengung als hohen Wert und den Schweiß auf der Stirn als Ehrenzeichen ansah, während die englische Haltungsethik von einem Gentleman verlangt, dass er sich Anstrengung nicht an¬merken lässt. 'Tüchtig' ist ein Wort, das uneingeschränkte An¬erkennung ausdrückt. Tüchtig ist in deutschen Augen jeder, der sich anstrengt, selbst wenn der Erfolg ausbleibt. Wie tief diese Tüchtigkeitsethik in der deutschen Kultur verwurzelt ist, zeigt sich daran, dass deutsche Intellektuelle ihre geis¬tige Anstrengung ungeniert zur Schau stellen, indem sie ganz bewusst hochkomplexe und schwer verständliche Sätze drechseln, was der englische Gentleman auf keinen Fall tun darf, da es als Angeberei und damit als Gesichtsverlust empfunden würde. Ein solches Zurschaustellen findet auch im Straßenverkehr statt. Indem man auf der Autobahn den Vordermann überholt, be¬weist man seine Tüchtigkeit; und wenn einem ein anderer Ver¬kehrsteilnehmer die Vorfahrt nimmt, quittiert man dies auch dann mit strafendem Hupen, wenn man gar nicht behindert wurde. Da es sich hier um ein tief verwurzeltes Kulturphänomen han¬delt, ist eine Geschwindigkeitsbegrenzung in Deutschland ge¬nauso schwer durchzusetzen wie eine Einschränkung des Waffen¬besitzes in USA. Der Tüchtigkeitsethik ist andererseits aber die wirtschaftliche Stärke Deutschlands zu verdanken. Auch wenn sich die Deutschen damit in Europa nicht unbedingt Freun¬de machen, nützt die Leistung ihrer Wirtschaft dem ganzen Kon-tinent; nur sollten sie dabei - das geht vor allem an die Ad¬resse der Politiker und der Führungselite - mehr Diplomatie und Fingerspitzengefühl walten lassen.