Die Gaste
ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE
ISSN 2194-2668
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(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)


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    Ausgabe 27 / Mai-Juli 2013



    Die Gaste, Ausgabe 27 / Mai-Juli 2013

     
     

    Die Gaste

    ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE

    ISSN 2194-2668

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    Verflochtene Zukünfte
    Kolonialismus, Rassismus und die Notwendigkeit von Theorie
    [Ýç Ýçe Geçmiþ Gelecekler - Sömürgecilik, Irkçýlýk ve Teori Gerekliliði]


    Prof. Dr. María do MAR CASTRO VARELA
    (Alice Salomon Hochshule, Berlin)

    Es ist kaum möglich, sich in der heutigen Welt eine politische Praxis vorzustellen, die nicht die globale Dimensionen sozialer Ungleichheit in den Blick nimmt. Die Soziologin Shalini Randeria spricht in diesem Zusammenhang von „verflochtenen Geschichten“, die es wenig schlüssig erscheinen lassen, unsere politische Verantwortung nur innerhalb nationaler Grenzen auszumachen. Ob es um die Frage des Klimawandels, um inter-ethnische Konflikte, Rassismus oder die Finanzkrisen geht, ohne eine historisierende und gleichzeitig globale Analyse sind all diese Fragen und Krisen nicht zu bearbeiten. Wie die Geschichte Europas mit der Geschichte ehemalig kolonisierter Länder miteinander verflochten sind, so sind auch die differenten Zukünfte miteinander verwoben. Dabei bemerkt Randeria durchaus zu recht, dass „aus der Perspektive der Mehrzahl postkolonialer Gesellschaften die Globalisierung als Versuch erscheint, sowohl „die Gegenwart zu rekolonialisieren als auch die Zukunft zu koloniali-sieren“. Von einer Zeit nach dem Kolonialismus kann also nicht wirklich gesprochen werden.

    Obschon die ersten bedeutenden postkolonialen Veröffentlichungen bereits aus den 1970er Jahren datieren und die Debatten um „Dekolonisierung“ und „Neokolonialismus“ (Kwame Nkrumah) bereits in den 1950er und 1960er Jahren einen Höhepunkt in den politischen Arenen erlebten, wird Postkoloniale Theorie im deutschsprachigen Raum erst in den letzten Jahren ernsthaft diskutiert. Und wenn auch die ersten Schriften von Literaturwissenschaftler/innen stammen (etwa Edward Said, Homi Bhabha, Gayatri Spivak), avancierte diese dennoch rasch zu einer wichtigen Perspektive innerhalb der kritischen Bewegungen um Globalisierung, Menschenrechte und Neoliberalismus. Darüber hinaus haben die Kritische Migrationsforschung und der Politische Antirassismus wichtige Impulse aus der Postkolonialen Theorie aufgenommen.

    Zentrale Annahme Postkolonialer Theorie ist, dass ein eminentes Geschehen wie die koloniale Eroberung, Unterwerfung und Beherrschung von etwa 85 Prozent der Weltterritoriums weder einfach erklärt werden kann, noch ohne Folgen bleiben konnte – weder für den Globalen Süden noch den Globalen Norden. Unter Einsatz poststrukturalistischer, marxistischer und feministischer Schlüsselkonzepte und Methodologien wurde eine weit reichende Kritik an westlichen Wissensproduktionen formuliert, die die Kontinuität eurozentrischer Gewalt nachweisen konnte. Eine Analyse hegemonialer Repräsentationspolitiken und die Untersuchung rassistischer Diskurse erlaubten es zudem, das Projekt der Aufklärung herauszufordern. So konnte die Kontinuität von Kolonialismus verdeutlicht und die fortgesetzte internationale Arbeitsteilung in die politische Debatte um soziale Gerechtigkeit zurückgeholt werden. Schließlich haben feministische postkoloniale Interventionen die Zentralität von Gender- und Sexualitätsfragen während kolonialer Herrschaftsregime als auch in aktuellen postkolonialen Räumen wie auch im Zusammenhang mit Migration aufgezeigt.

    Ziel des Postkolonialismus ist es, eurozentrische Perspektiven herauszufordern, wofür unter anderem die diversen Seiten der Kolonialbegegnung und die daraus resultierenden Hybridisierungen (á la Bhabha) einer differenzierten Analyse zugeführt werden. Dies ermöglicht eine Bewegung, die auch als „Provinzialisierung des kanonischen Status westlicher Theorien“ beschrieben wird. Denn schließlich bauen die Geschichten und Theorien, die als Kanon tradiert werden, auf der gewalttätigen Konstruktion und Marginalisierung der „Anderen“ auf. Stuart Hall hat dies in den prägnanten Satz „der Westen und der Rest“ auf den Punkt gebracht.

    Wenn die koloniale Beherrschung nur einseitig im Zusammenhang mit der Durchsetzung des Kapitalismus beschrieben wird, so ergibt sich daraus das Problem, so konnte gezeigt werden, dass Kolonialismus zu einem unumgänglichen Übel gerät. Und tatsächlich beurteilt Karl Marx den Kolonialismus als eine zwar brutale, aber im Grunde unabdingbare Bedingung für die Befreiung von feudalen Verhältnissen. Seine Analyse des Kolonialismus als Begleiterscheinung des sich durchsetzenden weltweiten Kapitalismus hat trotzdem viele der antikolonialen Bewegungen inspiriert, die freilich jeweils die Marx'schen Theorien kontextspezifisch re-interpretiert haben. Da die kolonialen Machtkonstellation von rassistischen Strukturen durchzogen waren, die in marxistischen Schriften häufig ignoriert wurden, sahen sich antikoloniale Intellektuelle immer wieder vor die Herausforderung gestellt, die marxistische Vorstellung von Klassenkampf zu überdenken.

    Das Aufkommen postkolonialer Studien knüpft dabei zum einen an die Geschichte der Dekolonisierung und der damit einhergehenden Herausforderung rassistischer wie auch hegemonialer Kultur-, Sprach- und Klassendiskurse durch Aktivist_innen antikolonialer Kämpfe (etwa Frantz Fanon) an, zum anderen an die Revolutionierung westlicher intellektueller Traditionen, die mit einer Herausforderung zentraler Konzepte wie etwa „Macht“, „Subjektivität“ und „Widerstand“ einherging. Beide Momente bildeten eine dynamische Einheit, die eine Re-Perspektivierung globaler Macht- und Herrschaftsstrukturen zuließ. Postkoloniale Theorie hat damit eine radikale Rekonzeptionalisierung der Beziehung zwischen Nation, Kultur und Ethnizität ermöglicht, die von weit reichender politischer Bedeutung war und ist. Da Postkoloniale Theorie sich der historischen, politischen und sozialen Nord-Süd- und Süd-Süd-Verflechtungen annimmt, zählt die Situation postkolonialer Migrant_innen und die Analyse ihrer Kämpfe im Westen zu ihren wichtigsten Interventionsfeldern. Edward Saids koloniale Diskursanalyse „Orientalismus“ aus dem Jahre 1978 gelang es etwa eine Diskussion um die Konstruktion des Orients zu eröffnen, die heute in den Debatten um antimuslimischen Rassismus immer noch wichtige Argumente bereitstellt. Das vermeintliche Wissen über den Orient, so stellte Said fest, hat der direkten Herrschaftsausübung gedient und war insoweit nie harmlos. Wir haben es eher mit einem Ensemble von Wissen und Macht zu tun. Postkoloniale Ansätze haben dabei Macht und Wissen nie nur in nationalen Varianten, sondern eben als globales Phänomen untersucht. So formulierte Fernando Coronil (2002), im Anschluss an Said, das Konzept des Okzidentalismus und zeigt mithilfe desselben auf, wie westliche Gleichheitsvorstellungen Ausgrenzungen produzierten. Er lenkt damit die Perspektive auf den „den relationalen Charakter von Repräsentation […]. Auch die Macht der Repräsentationen, ihre Genese in einem Kontext der Ungleichheit zu verschleiern und ihre historischen Verbindungen zu durchtrennen, gerät auf diese Weise in den Blick“. Im Licht zunehmender Migrations- und Fluchtbewegungen gewinnen innerhalb metropolitaner Räume postkoloniale Analysen von Migrationsprozessen und Transnationalisierungen eine immer bedeutsamere Rolle. Antirassismuspolitiken, kritische Rassismustheorien und Multikulturalismusdebatten haben dabei die „postkoloniale Migrantin“ zu einer vieldiskutierten Subjektposition werden lassen. Die Erfahrungen von Alltagsdiskriminierungen, die das Leben postkolonialer Migrant/innen in Europa bestimmen, werden damit zu einem wichtigen Politikfeld, das der kontinuierlichen Adressierung bedarf.

    Postkolonialismus als kritische Intervention hat zudem neue Einblicke in europäische Entwicklungspolitik erlaubt und die Strukturen einer kapitalistischen und patriarchalen Ausbeutung, die der Kolonialismus zuvor im Namen von Modernisierung etabliert hat, differenziert analysiert und hinterfragt (etwa Ilan Kapoor). Dass Solidarität nicht ohne eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit zu haben ist, ist dabei nur eine der vielen politischen Einsichten, die eröffnet werden. Wichtiger scheint es, das Projekt der Dekolonisierung im Sinne einer „Provinzialisierung Europas“ (Dipesh Chakrabarty) zu reformulieren. Der antikoloniale Widerstandskämpfer und Psychiater aus Martinique Frantz Fanon präsentiert etwa eine verknüpfende Analyse der Kategorien "Rasse" und "Klasse", um daran aufzuzeigen, dass sich orthodoxe marxistische Theorien als inadäquat für den antikolonialen Kampf erweisen. Ebenso hat der Poet und Aktivist Aimé Césaire ebenfalls aus Martinique immer wieder die kulturellen Antagonismen zwischen Europa und den Anderen hervorgehoben. Europa war für diesen antikolonialen Kämpfer der Ort von Dekadenz sowie des moralischen und spirituellen Abgrunds. In Abgrenzung dazu behauptet Césaire, dass die nicht-europäischen Zivilisationen vor der imperialen Invasion durch Kooperation und ein kol-lektives Verständnis des Zusammenlebens gekennzeichnet waren. Während Fanon, der sich in aller Deutlichkeit von solchen Erzählungen 'reiner', 'guter' Traditionen und Werte absetzt, feststellt, dass die Kolonisierten nicht nur diejenigen sind, deren Arbeitskraft vereinnahmt und ausgebeutet wurde, sondern auch diejenigen, deren Subjektivität entwertet wurde.

    Kritisch wird gegenüber der Postkolonialen Theorie häufig eingewendet, sich lediglich den Repräsentationspolitiken zuzuwenden und abstrakte Bezeichnungssymboliken zu analysieren, dagegen aber direkte Gewalt wie auch ökonomische Produktionsbedingungen ausgeblendet bleiben. Gayatri Spivak weist dagegen in ihren Schriften nicht nur auf die imperialistischen Kontinuitäten und aktuelle Formen internationaler Arbeitsteilung hin, sondern formuliert auch eine fundamentale Kritik an einem imperialistischen Feminismus und „moralisch empörten Aktivist/innen“ des Globalen Nordens. Und wie die Philosophin Nikita Dhawan feststellt, bedürfen Dekolonisierungsprozesse mehr als krisengesteuerter Philanthropie und aufgeregter Menschenrechtsinterventionen.

    Ein Zugang zur Postkoloniale Theorie ist nicht immer einfach, denn die Texte sind oft komplex und voraussetzungsvoll. Allerdings lässt die Kompliziertheit sozialer Ungerechtigkeiten nicht zu, dass wir uns den simplen Wahrheiten hingeben zu viel steht auf den Spiel!
       
       


        Literatur:
        Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2005): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript. (die revidierte und ergänzte zweite Auflage erscheint im März 2014) /span>